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1. August Rede – Unser Erfolgsrezept heisst «Ausgleich»

5. August 2023

Mörschwil, 31. Juli 2023
Muolen, 1. August 2023

Nun aber zum Bundesfeiertag. Und da möchte ich mit einer Mitteilung starten, von
der die eine oder der andere von Ihnen vielleicht bereits gehört hat. Der Nationalrat
hat am 4. Mai dieses Jahres – ohne meine Stimme – beschlossen, dass der 12.
September künftig der zweite Schweizer Nationalfeiertag neben dem 1. August sein
soll. – Aber Sie müssen bzw. dürfen, je nach Standpunkt, weder Angst noch
Vorfreude vor bzw. auf diesen neuen Feiertag haben. Der Ständerat wird diese Idee
wohl schon im September definitiv begraben.

Aber was hat es denn auf sich mit diesem 12. September? Am 12. September 1848
wurde die Bundesverfassung der Schweizerischen Eidgenossenschaft in Kraft
gesetzt. Mit diesem Ereignis entstand der moderne Bundesstaat, wie wir ihn heute
kennen. Wir feiern folglich im Jahr 2023 das 175-Jahr-Jubiläum der
Bundesverfassung. Es wäre also nicht per se absurd, den 12. September als
Bundesfeiertag festzulegen. Aber umgekehrt gibt es auch keinen Grund, weshalb wir
die Leistungen der Männer von 1848 (ja, Frauen waren leider an der Schaffung der
Bundesverfassung nicht beteiligt) nicht auch am 1. August würdigen können. Genau
das möchte ich heute tun.

Es fällt nicht ganz einfach, sich in die Schweiz im Jahr 1848 zu versetzen. Rolf
Holenstein macht dies in seinem Buch «Stunde Null – Die Neuerfindung der Schweiz
1848» auf ganz hervorragende Weise. Die Schweiz war bis 1847 ein sehr loses
Gebilde. Es gab Zölle zwischen den Kantonen, verschiedene Währungen und keine
Niederlassungsfreiheit zwischen den Kantonen. Also kein einfaches Zügeln von
Freidorf nach Mörschwil. Fast die ganze Macht lag bei den Kantonen. Die wenigen
eidgenössischen Angelegenheiten wurden in der Tagsatzung behandelt. Dort hatte
jeder Kanton – unabhängig von seiner Einwohnerzahl – eine Stimme. In Europa
kämpften die Erbmonarchien gegen aufkommende demokratische und liberale
Strömungen um ihre Macht. Die Grossmächte hatten auch Ideen für die Schweiz,
falls sich hier zu viel Demokratie und Liberalismus ausbreiten sollten. Die Ideen
reichten von der Schaffung eines Königreichs Helvetien mit dem Grossherzog von
Baden als Kronenträger eine Schweizer Monarchie mit dem König von Württemberg
als Oberhaupt der Schweiz bis zum Anschluss an den Deutschen Bund. Nicht
auszudenken, wie unsere Geschichte seit 1848 verlaufen wäre, wenn wir ein Teil
Deutschlands geworden wären.

Am Anfang unserer Bundesverfassung steht 1847 ein kurzer Bürgerkrieg. Dass
Schweizer gegen Schweizer vor 176 Jahren Krieg führten, geht beim Rückblick auf
unsere Geschichte gerne vergessen oder wird verdrängt. Die liberalen Kantone,
welche einen neuen Bundesstaat schaffen wollten, besiegten dabei die vornehmlich
katholischen Kantone, welche an der alten Ordnung mit der Tagsatzung festhalten
wollen. Nach dem Krieg wird eine 23-köpfige Bundesrevisionskommission gebildet,
welche entscheiden soll, wie es mit der Schweiz weiter geht. Jeder Kanton schickt
einen Vertreter, zwei Kantone verzichten freiwillig. Diese 23 Männer leisten
Erstaunliches. In nur 51 Tagen erschaffen sie die Bundesverfassung! Ja, in nur 51
Tagen!! Die letzte Totalrevision unserer Bundesverfassung dauerte zwischen 1965
und 1999 ganze 34 Jahre.

Die 23 Männer schaffen also eine Verfassung – von welcher sie selber aber glauben,
dass sie wohl nicht lange Bestand haben werde. Nicht wenige sind absolut sicher,
dass es sich beim Projekt der Revisionskommission um eine durch und durch
missratene, unbrauchbare und so schnell wie möglich zu entsorgende Stümperarbeit
handelt, schreibt Rolf Holenstein in seinem Buch «Stunde Null». Aber weit gefehlt!
Das Werk von 1848 bildet in seinen Grundzügen mit den zwei Parlamentskammern,
also National- und Ständerat, dem Erfordernis des Ständemehrs für
Verfassungsänderungen, dem siebenköpfigen Bundesrat, dem Bundesgericht und
dem Initiativrecht des Volkes noch heute den Kern der aktuellen Schweiz.
Doch woher kommt dieser nicht vorhersehbare Erfolg unserer Bundesverfassung?
Ich glaube, der eigentliche Erfolgsfaktor der Verfassung und damit auch der Schweiz
ist der Grundgedanke des Ausgleichs. Die unterlegenen Kantone wurden von den
Siegern eben nicht einfach «platt gemacht». Nein, auf die Befindlichkeiten der
Bevölkerung in diesen tendenziell kleineren Kantonen wurde von den Grossen
Rücksicht genommen. Der Ständerat, in dem jeder Kanton mit gleicher Stimmkraft
vertreten ist und das Ständemehr bei Verfassungsabstimmungen garantieren, dass
bevölkerungsreiche Städte nicht einfach über die bevölkerungsärmere ländliche
Schweiz bestimmen können. Wenn ich heute Stimmen höre, die den Ständerat oder
das Ständemehr abschaffen möchten, nur weil ihnen die entsprechenden Ergebnisse
nicht passen, so kann ich darüber nur den Kopf schütteln. Solche Stimmen haben
nicht begriffen, was die Schweiz überhaupt erst zusammenhält: Es ist der Gedanke
des Ausgleichs.

Wie konnte ausgerechnet ein so verschiedenartiges Gebilde wie die Schweiz zu
einen der erfolgreichsten Staaten auf der ganzen Welt werden? Ein Gebilde mit vier
Landessprachen – von den exotischen Dialekten im Berner Oberland oder im
Oberwallis möchte ich gar nicht sprechen – mit vielen verschiedenen Kulturen, mit zu
allen Zeiten einem respektablen Mass an Einwanderung, mit – mindestens 1848 –
reichem Bürgertum in den Städten und armer Landbevölkerung? Dieser Erfolg war
nur durch den Grundgedanken des Ausgleichs zu schaffen. Ausgleich bedeutet auch,
dass keine Instanz im Staat zu viel Macht in den Händen hält. Unsere Gesetze
entstehen langsam, aber sie haben Bestand. Unsere Bundesrätinnen und
Bundesräte werden vom Parlament zurückgepfiffen, wenn sie in eine falsche
Richtung marschieren. Und wir als Parlamentsmitglieder müssen uns immer bewusst
sein, dass gegen unsere Gesetze von lediglich 50’000 Stimmbürgerinnen und
Stimmbürgern das Referendum ergriffen werden kann und das Gesetz dann eine
Volksabstimmung bestehen muss. Die Macht ist bei uns – wie es die
Verfassungsgeber schon vor 175 Jahren vorgesehen haben – also sehr gut verteilt.
Und das letzte Wort hat die Stimmbevölkerung!

Natürlich stellt sich im Verfassungsjubiläumsjahr 2023 die Frage, ob mit den
Rezepten der letzten 175 Jahre auch die Herausforderungen der nächsten
Jahrzehnte zu meistern sind. Persönlich glaube ich fest daran, dass für die Schweiz
ein Brücken zwischen den verschiedenen Interessen bauender «Ausgleich» uns
auch künftig Erfolg bringen wird.

Wenn wir in die grosse, weite Welt schauen, dann sehen wir genau das Gegenteil
von Ausgleich. Wir sehen Polarisierung, Machtgehabe, Unterdrückung der
Schwächeren durch die Stärkeren, Unterjochung der Besiegten durch die Sieger. Die
USA sind ein komplett gespaltenes Land, in China darf es keinerlei Widerspruch zur
Doktrin der kommunistischen Partei geben, China zeigt auch seine militärische
Stärke und bedroht Taiwan, in Frankreich brennen die Städte, weil die Integration der
Bevölkerung aus den früheren Kolonien gescheitert ist und schliesslich sorgt
Russland mit seinem brutalen Überfall auf die Ukraine dafür, dass der klassische
Krieg zwischen Staaten 77 Jahre nach dem Ende des zweiten Weltkriegs zurück in
Europa ist.

Wir tun gerade in dieser unruhiger und unsicherer geworden Zeit gut daran, in der
Schweiz unser Erfolgsrezept des Ausgleichs auch künftig anzuwenden. Ausgleich
heisst, dass man am Schluss von Verhandlungen auch einmal ein Ergebnis
akzeptiert, das nicht zu 100 Prozent den eigenen Vorstellungen entspricht.
Wir stehen als Land in der Tat vor grossen Herausforderungen, für deren Lösung es
unbedingt Ausgleich braucht. Ich will nur einige wenige anführen:

1. Wir müssen dafür sorgen, dass sich Unternehmen auch in Zukunft in der Schweiz
wohl fühlen. Unser Wohlstand beruht auf innovativen, starken Unternehmen. Es
gilt, Mass zu halten mit unserer Regulierung. Es braucht den Ausgleich zwischen
unternehmerischer Freiheit und sozialer sowie ökologischer Verantwortung. Der
Staat kann nichts verteilen, was nicht zuvor erwirtschaftet wurde.

2. Eine sichere und bezahlbare Energieversorgung muss mit den Klimazielen in
Einklang gebracht werden. Das ist mehr als anspruchsvoll, braucht klare
Entscheide, aber auch Ausgleich und Augenmass. Gegen jedes Windrad zu
kämpfen ist genauso falsch wie das möglichst baldige Abschalten unserer
bestehenden Kernkraftwerke zu verlangen.

3. Der Ukraine-Konflikt hat aufgezeigt, dass wir unser Verständnis von Neutralität
neu definieren müssen. Im Moment sind wir Getriebene von irgendwelchen
Wünschen anderer Staaten. Es braucht eine Nachjustierung. Unsere Neutralität
beruht im Wesentlichen auf dem Haager Übereinkommen von 1907. Damals war
die Schweiz von Grossmächten umgeben. Jederzeit konnten diese gegenseitig
Krieg führen. Die Neutralität der Schweiz war der einzig sinnvolle Weg. Heute
geht es nicht mehr um unsere Nachbarstaaten. Und heute gibt es Organisationen
wie die UNO, welche das Völkerrecht schützen. Eine Neutralität im Verständnis
von vor über 100 Jahren darf es einem Aggressor wie Vladimir Putins Russland
gegenüber meiner Meinung nach nicht geben. Die Schweiz als Kleinststaat lebt
von der Respektierung des Völkerrechts. Wer dem völkerrechtswidrigen Überfall
auf Länder mit einem Achselzucken begegnet, wird zum Gehilfen des Aggressors.
Das ist einer Schweiz, wie ich sie sehe, unwürdig. Auch hier heisst das
Zauberwort «Ausgleich». Wir werden nicht mit Schweizer Soldaten in der Ukraine
kämpfen oder direkt Waffen in die Ukraine liefern. Aber es gibt für die Schweiz
Optionen wie etwa den grosszügigeren Umgang mit Wiederausfuhrbewilligungen
bei Waffen aus Schweizer Produktion.

4. Der Ausbau unserer Infrastrukturen muss beschleunigt werden. Dabei denke ich
nicht nur, aber auch an die Verkehrsinfrastruktur. Auch hier braucht es Ausgleich.
Der öffentliche Verkehr muss zweifellos gefördert werden. Die Zustände in
unseren Zügen sind heute teilweise unhaltbar. Aber auch beim Verkehr braucht
es Ausgleich, dürfen die Verkehrsträger nicht gegeneinander ausgespielt werden.
Die Verteufelung des Autos spaltet die Gesellschaft. Vielmehr muss auch unser
Nationalstrassennetz, welches ursprünglich auf eine 6-Millionen-Schweiz
ausgerichtet war, an die Entwicklung unserer Bevölkerung und unserer Mobilität
angepasst werden. Schliesslich

5. Unser, wie auch Europas, Umgang mit Migration. Das Thema Migration steht im
Sorgenbarometer der Schweizer Wählerinnen und Wähler ganz weit oben.
Patentrezepte gibt es nicht. Geburtenstarke Jahrgänge gehen in Pension und
vielen Branchen fehlt es an Arbeitskräften. So wird im europäischen Ausland
rekrutiert. Das europäische, und teilweise auch das schweizerische, System zum
Umgang mit Asylbewerberinnen und -bewerbern versagt. Es kommen und bleiben
nicht in ihren Heimatländern besonders gefährdete Personen, vor allem Frauen
und Kinder. Nein, den gefahrenreichen Weg durch Wüsten und über Meere
nehmen vor allem junge Männer in der Hoffnung auf ein wirtschaftlich besseres
Leben unter die Füsse. Das birgt für Europa eine gewaltige Sprengkraft. Es
braucht Ausgleich: Bei der Arbeitsmigration zwischen den Wünschen der
Wirtschaft und der Akzeptanz in der Bevölkerung – beim Asylthema zwischen
dem Schutz verfolgter vulnerabler Menschen und der Rückführung aller anderen
in ihre Herkunftsländer.

Die Liste der Herausforderungen liesse sich problemlos verlängern: Unser Verhältnis
zur EU, die Demographie und ihre Bedeutung für die Altersvorsorge, das
Kostenwachstum im Gesundheitswesen, die Regulierung unserer neuen Riesenbank
UBS etc. etc.

Ich will es aber für heute dabei belassen und zum Schluss kommen:
Nein, wir brauchen keinen zusätzlichen Bundesfeiertag. Wir haben unseren 1.
August und dieser eignet genauso dafür, den Gründungsmythen der
Eidgenossenschaft mit Rütlischwur, Bundesbrief, Wilhelm Tell und Winkelried zu
gedenken wie der Leistungen der Männer, die vor genau 175 Jahren mit der
Bundesverfassung die Grundlage für die moderne Schweiz schufen. Unsere
Verfassung bietet uns alles, was wir brauchen, um die Schweiz zum Erfolg zu führen.
Eine Verfassung sind Buchstaben, Wörter, Sätze und viele Gedanken. Wir als
Einwohnerinnen und Einwohner unseres unvergleichlichen Landes müssen die
Verfassung immer wieder aufs Neue zum Leben erwecken. In erster Linie, indem wir
nicht vergessen, dass unser Erfolg auf Ausgleich beruht. Reichen wir also dem
Andersdenkenden nach ausgetragenem Streit die Hand. Das hat uns mehr als jeder
Apfelschuss von Wilhelm Tell einzigartig auf der Welt gemacht!